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Wir sind alle irgendwo abgefuckt – Tanya Tagaq im Interview

Die Inuit-stämmige Tanya Tagaq ist sehr speziell – äußerst liebenswürdig, fluch-freudig und vom Grunde auf herzlich sympathisch. Doch ihre Kunst, die ist etwas, das seit einiger Zeit von den grauen Zeisen unserer popaffinen Gesellschaft herzlich gern tot geredet wird: ein Funken Innovation der Popmusik. Die Sängerin widmet sich dem sogenannten „Throat-Singing“ und verbindet mit ihren Schlagzeug-, Violin- und DJ-Komplizen die alteingesessene Tradition ihres Volkes mit improvisierten Sounds von heute. Klingt abgedreht, gar tierisch? Ist es auch – und zugleich ein irgendwie wertvoller Beitrag zur Wahrung von Tradition bei Schaffung einer Neuorientierung. Was würde ein Adorno wohl sagen?

MusikBlog: Dein neues Album „Animism“ beginnt zugleich mit einem wundervollen Pixies-Coversong. „Caribou“ scheint dabei zusammenzufassen, wofür Dein Werk steht: Das Leben als wundervoller und schrecklicher Kampf, von außen beobachtet und in seiner ursprünglichsten Form besungen.

Tanya: Oh ja, mit diesem Song bin ich aufgewachsen, ich liebe ihn über alles. Ich liebe generell Punkmusik. Ich liebe auch Nina Hagen, die Ramones, Misfits… Es ist, als sei Metal ganz einfach ein wenig zu intellektuell für mich. (lacht)

MusikBlog: Ach! Wie bist Du einer Nina Hagen im entlegenen Kanada verfallen?

Tanya: Sie ist einfach so fucking Hardcore! Sie ist auf natürliche Weise feminin und verkörpert das Weibliche auf interessantem Wege, ohne in die Falle zu tappen, das naive Mädchen zu sein. Es gibt nichts langweiligeres, als eine verhungernde Barbie, weißt Du? Natürlich verstehe ich kein Deutsch, aber mein absolutes Lieblingsvideo ist ihre Interpretation von Ziggy Stardust. Es ist einfach die Art, wie sie sich bewegt und ausdrückt. Du kannst 100 verschiedene Personen in ihr wiedererkennen, während sie performt. Ich finde es faszinierend, wie sie in einem Moment beängstigend, im nächsten ein wenig abgefuckt sein kann.

MusikBlog: Kannst Du Parallelen zwischen euch ziehen?

Tanya: Oh, davon gibt es so einige. Generell, die deutsche Kultur betreffend: Wenn Du einen Witz erzählst, der ganz einfach nicht lustig ist, dann wirst Du in Deutschland glattweg angeglubscht. In Kanada meint man sich der Höflichkeit halber einen Lacher abdrücken zu müssen. Ich mag das Direkte, weil ich genau diesen Aspekt in meiner Persönlichkeit habe. Ich mag es, wenn Leute nicht nur das sagen, was ich wohl hören möchte.

MusikBlog: Deine Musik ist tatsächlich sehr direkt und unmittelbar. Sie macht sich etwa nicht die Mühe, irgendwelchen Strukturen und Schemata Folge zu leisten. Zwängen Strukturen die Kunst ein?

Tanya: Ich liebe Dinge, die frei sind. Stegreiferfindungen sind frei. Aber ich mag es auch, streng strukturierten Songs zu lauschen, das ist irgendwie liebenswürdig. Wo jedoch mein Blut fließt, das ist in der Improvisation. Ich mag das völlige Loslassen von der Kontrolle. Die Kunst existiert in dem Moment einfach, denn ihre Essenz liegt in der Kontrolllosigkeit. Gerade das mag ich, schließlich ist unsere Gesellschaft so furchtbar in Fesseln gehalten! Wir folgen jederzeit diesen selbstauferlegten Regeln. Sich dann solche Freiräume schaffen zu können, das ist sehr erleichternd.

MusikBlog: Entsprechend ist „Animals“ auf CD gepresste Improvisation, aber auch keine wahre Kunstessenz, richtig?

Tanya: Wenn wir Musik machen, dann improvisieren die Jungs und ich ganz einfach, ja. Wir schauen, wie wir die ersten Ideen zusammen empfinden und entwickeln. Danach hat sich Material für etwa vier Longplayer entwickelt, aus denen wir uns die besten herausgepickt haben. Entsprechend ist die Wurzel der Improvisation immer noch da. Aber das stimmt schon, es sind die Live-Shows, in denen die wahre Magie stattfindet.

MusikBlog: Funktioniert das ganze Konzept so auch für jedermanns Ohren – also auch für Leute, welche keinen direkten Zugang zu Deiner Kultur haben?

Tanya: Ich denke, die Menschen verstehen es, wenn sie es wirklich wollen. Natürlich werden die Top40-Hörer keinen Zugang finden. Es ist mehr Musik für Künstler; Musik für Leute, die nach etwas Speziellem Ausschau halten. Der Grund aber, warum alle Menschen unsere Musik verstehen können, ist eine Gemeinsamkeit: Wir alle atmen. Das ist unsere gemeinsame Wurzel. Und mein Gesang ist ganz einfach Atemarbeit. Doch die Menschen haben wirklich einen sehr speziellen Weg eingeschlagen, der zu einem gewissen Grad vorgibt, „falsch“ sein zu müssen. Schau Dir nur unsere heutige Situation an: Mit dem Social Media-Kram versuchen wir, uns nur in unseren besten Facetten zu zeigen. Das ist Bullshit. Wir sind alle irgendwo abgefuckt. Wir sind aber auch glorreich, wunderschön und schrecklich. Wir entdecken nur einen Bruchteil unseres Selbst, doch ein solches Konzept kann alle auf ein Sinnes-Level bringen.

MusikBlog: Wenn ich mich also auf das Essenzielle konzentriere und Deiner Performance lausche – wie erfahre ich, dass „Uja“, der nur aus Lauten bestehende Song auf Deinem Album, unter anderem von der Geburt handelt, wenn ich keinerlei Text-Anhaltspunkte habe?

Tanya: Tatsächlich verwende ich ungern Worte in meiner Musik. Ich mag die Vorstellung, dass die Menschen mit ihren eigenen Hintergründen und Erfahrungen die Klänge auf individuelle Weise interpretieren können. Nach einem Konzert kam eine Frau zu mir, welche mit Krebs im Endstadium kämpfte. Sie meinte, sie habe nach der Darbietung nicht mehr eine solche Angst zu sterben. Manche Leute sind verängstigt, manche verwirrt, manche weinen oder lachen gar – ich möchte, dass jeder auf seine eigene Weise mit meiner Musik umgeht. Du kannst schließlich nur für Dich selbst sprechen. Für Dich kann „Uja“ also von einer Geburt handeln, ein anderer sieht darin vielleicht den Tod.

MusikBlog: Wo sollte man sich diese essentiellen Gedanken machen? Die kleinen clubtauglichen Schnipsel laden mit dem Hintergedanken nicht gerade zum Tanzen …

Tanya: Wenn Du dazu feiern möchtest, dann solltest Du das verdammt noch mal fucking hard tun!

MusikBlog: Du fluchst ordentlich, das ist mal sympathisch.

Tanya: Schreibe das nicht mit rein! (lacht)

MusikBlog: Versprochen. (gekreuzte Finger)

Tanya: Ich bin mit zwei Brüdern aufgewachsen. Ich habe ja auch zwei Kinder, vor denen ich nicht so rede, da muss ich mich auf ihre Schulzeit beschränken. Wie auch immer. Der Hörkontext: Ich würde es sicherlich nicht im Bad zum Relaxen anhören. Aber es ginge vollkommen zum Sport treiben, Saubermachen und solch ein Zeug klar. Ich persönlich höre es manchmal beim Malen.

MusikBlog: Wie kann man einen Throat-Song in seiner Qualität messen – schließlich war es im ursprünglichen Sinne eine Art Duett-Battle, richtig?

Tanya: Richtig, ursprünglich ist es als Duett aufgezogen. Das Beste daran, das ganze alleine zu fahren, ist, dass niemand merkt, wenn Du gerade völlig versagst. (lacht) Auch das ist Improvisation: Fehler werden zu einem Teil der Kunst. Außerdem war ich nie eine Wettkämpferin: Nicht einmal wenn ich laufen gehe nehme ich meine Zeit. Traditionelles Throat-Singing soll tatsächlich herausfordern, wie lange Du das Ganze machen und mit einer gewissen Technik – oder aber durch Improvisation – den Song ändern kannst, um die andere Person herauszufordern. Es ist ein freundlicher Wettkampf.

MusikBlog: Als Kampf können auch Deine Statements zum Umgang der Menschen mit der Natur bezeichnet werden.

Tanya: Tiere, Natur – das ist es, was wir sind. Alles spielt ineinander. Zwar haben die Menschen sich diese oberflächliche Welt erbaut, die unsere Kulturen diktiert und wie wir agieren. Doch egal, was wir tun, niemals können wir uns von dem loslösen, was uns im Kern ausmacht. Dabei füllen wir uns quasi mit so viel Krankheit: Schlechtes Essen, Umweltverschmutzung, Selbstausbeutung. Ich bin glücklich, in einer Gegend aufgewachsen zu sein, welche anders handelte. Wir haben uns selbst verloren. Und hoffentlich ist meine Musik nur ein kleiner Beitrag dazu, darauf aufmerksam zu machen. Wir alle sind Tiere. Wir alle müssen sterben.

MusikBlog: Du scheinst eine sehr liebevolle und nachdenkliche Person zu sein. Andererseits nutzt Du starke Bilder, um schon fast provozierend auf unsere Probleme aufmerksam zu machen.

Tanya: Das stimmt, das ist ein Hobby! (lacht) Ich meine, Probleme lösen sich nun einmal nicht von selbst. Ich nehme mir selbst einen gewissen Druck weg und fühle mich wohler, indem ich auf das Schlechte aufmerksam mache. Außerdem schätzt Du die schönen Dinge viel mehr, wenn Du Dir der unschönen bewusst bist. Ich bin eine Problemlöserin. Ich liebe es, auf etwas zu strahlen, das ich als dunkel empfinde. Die Welt soll ein reales Bewusstsein entwickeln. Um ein verantwortungsvoller Mensch zu sein, musst Du Dich nun einmal mit dem Menschsein auseinandersetzen, etwa der Politik. Ich bin glücklich, eine Plattform zu haben, um mich weitreichender kundzutun.

MusikBlog: Was würdest Du ohne diese Plattform tun?

Tanya: Ich würde wohl malen oder schreiben. Ich bin das genaue Gegenteil einer A-Type. Ich denke nach, ich recherchiere, ich spreche – nicht nach Schemata, sondern relativ unvorhersehbar. Dennoch liebe ich diesen Typen Mensch – Er hat ganz einfach Vorzüge, mit denen ich eben nicht gesegnet bin. Es wäre doch nun wirklich furchtbar, wenn alle Leute wären wie ich.

MusikBlog: Vielen Dank für das Interview.

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